Der Geheimcode der Ökosysteme

15. September 2014
Der Klimawandel wird die Welt vermutlich sehr verändern – auch die Pflanzenwelt. Nur wie? Das können derzeit weder Klimaforscher noch Biologen einigermaßen gut abschätzen. Mit zwei aktuellen Arbeiten tragen Forscher des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie in Jena und der Universität Leipzig dazu bei, das zu ändern. Dabei rücken sie erstmals konkrete Merkmale von Pflanzen in den Blickpunkt: etwa die Masse der einzelnen Samen, die Dichte des Holzes oder die Höhe, die ein Gewächs erreicht. Bisher konzentrierten sich Biologen und Biogeografen auf die klimaabhängige Verbreitung von Arten und Pflanzentypen einerseits und die Funktionen von Ökosystemen andererseits. Wie genau die Vegetation etwa durch Anpassungen auf Klimaveränderungen reagiert, blieb bisher ungeklärt. Der Blick auf die Eigenschaften von Pflanzen soll nun helfen diese Frage zu beantworten. So definierte eines der beiden Autoren-Teams abhängig von konkreten Merkmalen klimatische Grenzen, innerhalb derer sich nordamerikanische Bäume verbreiten können.

Für die Ernährung der Menschen können die Folgen des Klimawandels einschneidend sein: Ändern sich in einer Region die Lebensbedingungen für Pflanzen, könnte es dort mit der Landwirtschaft im schlimmsten Fall vorbei sein. Zumindest anpassen muss die Branche sich. Doch das ist nicht alles. Die Vegetation und die damit verknüpften Bodeneigenschaften sind mit dem Klima stark gekoppelt: Wenn die Erderwärmung manchen Pflanzen zusetzt, dürfte das Spuren in vielen Ökosystemen hinterlassen und diese vielleicht sogar völlig umkrempeln. Damit verändern sich auch die Funktionen von Ökosystemen, wozu etwa deren Kohlendioxid- und Wasserhaushalt zählt. Wenn sich also künftig vielleicht Savannen ausbreiten, wo heute noch Wälder große Mengen an Kohlendioxid speichern, könnte das dem Klima weiter einheizen.

Auch die Kreisläufe, in denen die Atmosphäre und die belebte Landoberfläche, Wasser oder Stickstoff untereinander austauschen, dürften auf einer wärmeren Erde anders aussehen als heute. Diese Veränderungen der Biogeosphäre werden ebenfalls auf das Klima zurückwirken und vermutlich zu einer stärkeren Erwärmung führen. Sie werden zudem etwa den Wasserhaushalt der Erde durcheinander bringen – mit vielfältigen Folgen für Mensch und Umwelt.

Die Eigenschaften von Pflanzen rücken in den Blick
Um zu verstehen und vorhersagen zu können, wie die Pflanzenwelt auf den Klimawandel reagieren wird, verfolgen Forscher um Markus Reichstein, Direktor am Max-Planck-Institut für Biogeochemie, Jens Kattge, Leiter einer Forschungsgruppe am selben Institut, und Christian Wirth, Professor an der Universität Leipzig sowie Direktor des Deutschen Zentrums für Integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig, mit aktuellen Arbeiten einen neuen Ansatz der funktionellen Biogeografie, den sie in einer Sonderausgabe des Fachjournals Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) vorstellen. Die Forscher analysieren welche Merkmale der Pflanzen ausschlaggebend dafür sind, ob Bäume, Sträucher oder Gräser mit dem Klimawandel klar kommen oder nicht und ob Pflanzen ihre Eigenschaften anpassen, um etwa robuster gegenüber Kälte und Trockenheit zu werden. Zu den Pflanzeneigenschaften, um die es dabei geht, gehören die Holzdichte, Stammhöhe und Samenmasse ebenso wie die fotosynthetische Kapazität oder die Atmung der Pflanzen, bei der sie den in der Fotosynthese gewonnen Zucker zumindest teilweise wieder verbrennen.

Die Pflanzeneigenschaften liefern den Wissenschaftlern vielleicht eine Art Geheimcode, mit dem sie manche Rätsel der Ökosysteme und der Biogeografie lösen können. So lässt sich mit ihrer Hilfe womöglich auch ein Problem der Vegetationsmodelle beheben, mit denen sie bisher den Einfluss des Klimas auf Ökosysteme und deren Funktionen zu erklären versuchten. „Wir können die Unterschiede zwischen Ökosystemen nicht allein mit dem Klima erklären“, sagt Markus Reichstein. Der Landschaftsökologe vermutet wie auch einige andere Biogeoforscher, dass die Verständnislücke entsteht, weil seine Zunft bisher nur einen Zusammenhang zwischen dem Klima und funktionellen Pflanzentypen oder einzelnen Arten statt konkreter Pflanzeneigenschaften herzustellen versuchten.

Innerhalb funktioneller Pflanzentypen können Eigenschaften stark variieren
Als funktionelle Pflanzentypen gelten etwa immergrüne Nadelwälder, tropische Regenwälder, Savannen oder Ackerland. Diese Pflanzentypen sind per Definition an bestimmtes Klima gebunden. „Diese Einteilung vernachlässigt aber, dass sich einzelne Pflanzen innerhalb eines Pflanzentyps an veränderte Klimabedingungen anpassen können“, erklärt Markus Reichstein. „Wir wissen zum Beispiel, dass Kiefern an der Baumgrenze, wo sie einem eher ungünstigen Klima ausgesetzt sind, kleinere Nadeln bilden als unter günstigen klimatischen Bedingungen.“
Mit den funktionellen Pflanzentypen hat sich in der Biogeografie also eine Art Schubladendenken etabliert, das der Wandelbarkeit der Pflanzen nicht gerecht wird. Genau das wollen Biogeochemiker wie Markus Reichstein, Christian Wirth und Ulrike Stahl, die ebenfalls am Max-Planck-Institut für Biogeochemie forscht, ändern, indem sie den Blick auf konkrete Pflanzenmerkmale richten.
Auch der Blick auf einzelne Arten, hilft Geoforschern nicht wirklich weiter, wenn sie den Einfluss des Klimas auf die Vegetation und die Landökosysteme verstehen wollen. „Dann müssen wir die Rolle jeder einzelnen im Erdsystem verstehen“, erklärt Jens Kattge aus der Arbeitsgruppe Funktionelle Biogeographie am Max-Planck-Institut für Biogeochemie, der zusammen mit den anderen Editoren der PNAS-Sonderausgabe in die funktionelle Biogeografie einführt.

Pflanzen eines funktionellen Typs mit unterschiedlichen Kohlendioxid-Bilanzen Um die Bedeutung der Pflanzeneigenschaften zu untermauern, betrachten die Forscher um Markus Reichstein den Kohlendioxid-Haushalt von Ökosystemen. Ob ein Ökosystem mehr Kohlendioxid aufnimmt als es abgibt oder umgekehrt, hängt zum einen davon ab, wie viel Kohlendioxid die Pflanzen und Mikroorganismen einer Artengemeinschaft mittels der Fotosynthese in Kohlenhydraten binden. Zum anderen fließt in die Bilanz die Kohlendioxid-Menge ein, die vor allem Pflanzen und Mikroorganismen, aber auch Tiere freisetzen, indem sie die Kohlenhydrate für ihren Energiehaushalt wieder abbauen.

Bisher veranschlagen die Erdsystemmodelle, die das Klima, aber auch dessen Wechselspiel mit den Land-Ökosystemen simulieren, für jeden funktionellen Pflanzentyp fixe Parameter: Demnach müssten zum Beispiel alle Nadelwälder in gemäßigten Klimazonen dieselben maximalen Fotosyntheseraten aufweisen, und zwar andere als Grasländer, die sich wiederum untereinander unter denselben Bedingungen nicht unterscheiden.
Doch die Kategorien der funktionellen Pflanzentypen sind viel zu eng gefasst, als dass sie die Funktionen von Ökosystemen, wie etwa deren Rolle im globalen Kohlendioxid-Haushalt realistisch erfassen könnten. Tatsächlich nehmen manche Ökosysteme mehr Kohlendioxid auf als andere, obwohl Biogeografen sie demselben funktionellen Pflanzentyp zurechnen. Vor allem die Kohlenhydrat-Menge, die Organismen in der Zellatmung verbrennen, kann sich in verschiedenen Ökosystemen desselben funktionellen Pflanzentyps deutlich unterscheiden. Einen Zusammenhang mit den jeweiligen klimatischen Verhältnissen erkannten Biogeoforscher bisher nicht.

Gebraucht werden Daten zu Funktionen und Eigenschaften derselben Ökosysteme
Genau hier könnte der Blick auf die Pflanzeneigenschaften weiterhelfen. Zum Beispiel auf den Stickstoffgehalt von Blättern. Dieser entspricht der Konzentration an Enzymen, die an der Fotosynthese beteiligt sind, und hängt mit der gebundenen Kohlenstoff-Menge zusammen. Darauf lässt sich auch aus der Blattmasse pro Fläche schließen. Die Stickstoffkonzentration in den Wurzeln und im Holz stellt wiederum ein Maß für die Enzyme dar, die an der Zellatmung beteiligt sind. Aus ihr lässt sich also die freigesetzte Kohlendioxid-Menge ableiten.
Zu konkreten Pflanzeneigenschaften wie der Samenmasse oder der Holzdichte gibt es unter anderem am Max-Planck-Institut für Biogeochemie bereits umfangreiche Datensammlungen. Und offenbar lässt sich ihre Variation besser mit dem Klima erklären als die Schwankungsbreite innerhalb eines Pflanzentyps oder einer Art. „Wir wollen in der funktionellen Biogeografie den Zusammenhang zwischen konkreten Pflanzeneigenschaften, den Ökosystemfunktionen wie etwa ihrer Kohlenstoff-Bilanz oder ihrem Wasserhaushalt und dem Klima quantifizieren“, sagt Markus Reichstein. „Dann verstehen wir die Rolle der Land-Ökosysteme im Erdsystem besser und können hoffentlich zuverlässiger vorhersagen, wie die Biogeosphäre auf den Klimawandel reagieren wird.“

Wie sich die Funktionen von Ökosystemen, also etwa ihr Kohlendioxid- und Wasserhaushalt schon heute ändern, können Markus Reichstein und ein internationaler Verbund von Biogeoforschern mithilfe von FLUXNET, einem weltumspannenden Netz von Messstationen, und Satelliten-Messungen sehr genau verfolgen. Auch Daten zur Erderwärmung gibt es reichlich. Doch dummerweise gibt es ausgerechnet für die Ökosysteme und Gebiete, in denen das FLUXNET-Konsortium umfangreiche Daten sammelt, nur selten Messungen zu den Pflanzenmerkmalen, die wiederum für andere Ökosysteme vorliegen. „Künftig müssen wir dafür sorgen, dass die Datensätze zu Funktionen und Eigenschaften der Ökosysteme zueinander passen“, sagt Markus Reichstein. Und dann sind Wissenschaftler gefragt, die solche Daten in einen mathematischen Zusammenhang miteinander und mit Klimaaufzeichnungen setzen – das Spezialgebiet des Jenaer Forschers.

Wie hängt die Verbreitung von Bäumen mit ihren Eigenschaften zusammen
Einen Beitrag zu einer funktionellen Biogeografie, die die Merkmale von Pflanzen berücksichtigt, statt funktionelle Pflanzentypen oder einzelne Arten pauschal zu behandeln, leisten Ulrike Stahl, Björn Reu, der als Wissenschaftler an der Universität Leipzig arbeitet, und Christian Wirth. Die Forscher untersuchen, wie sich die Bäume Nordamerikas auf die verschiedenen Klimazonen des Kontinents verteilen. „Wir wollten herausfinden, ob sich der Verbreitungsraum von Bäumen anhand ihrer Eigenschaften vorhersagen lässt.“, sagt Ulrike Stahl. „Und wenn ja, welche Merkmale die Verbreitung limitieren.“
Konkret analysierten die Forscher, ob sich etwa Holzdichte, Samenmasse und maximale Höhe unter anderem mit der Jahresdurchschnittstemperatur, den täglichen und saisonalen Temperaturschwankungen oder der jährlichen Niederschlagsmenge in Verbindung bringen lassen. Demnach hängen zumindest manche Eigenschaften eindeutig von den untersuchten Klimafaktoren ab. So kommen Bäume mit dichtem Holz wie die rote Mangrove oder die Virginia-Eiche nur in warmen Regionen mit vergleichsweise kleinen saisonalen Temperaturschwankungen vor. Die längeren Vegetationsperioden solcher Gegenden erlauben es den Bäumen ein festes Holz aufzubauen, das gegen Insekten und Pilze resistent ist. Dies schränkt dann aber ihre Verbreitung in kälteren Regionen ein.
Für die Samenmasse wirkt die Temperatur in ähnlicher Weise als limitierender Faktor. Während Bäume mit leichten Samen wie etwa Birken und Pappeln unter allen klimatischen Bedingungen Nordamerikas anzutreffen sind, brauchen die kalifornische Rosskastanie und andere Bäume mit schweren Samen warmes Klima ohne starke Temperaturschwankungen und vertragen nicht zu viel Niederschlag. „Warum die Temperatur den Verbreitungsraum von Bäumen mit schweren Samen begrenzt, wissen wir nicht genau“, sagt Ulrike Stahl: „Möglicherweise müssen die Vegetationsperioden ebenfalls lang sein, um schwere Samen auszubilden.“
Vegetationsmodelle sollen künftig auf Pflanzeneigenschaften basieren
Während die Holzdichte und Samenmasse am unteren Ende der Schwankungsbreite den Lebensraum nicht einschränken, ergibt sich für die maximale Wuchshöhe ein etwas anderes Bild, zumindest wenn es um ihre Abhängigkeit von der jährlichen Niederschlagsmenge und von der verfügbaren Feuchtigkeit geht. Die Verfügbare Feuchtigkeit – die Wissenschaftler sprechen von der Netto-Niederschlagsmenge – ergibt sich aus dem gefallenen Niederschlag und der Feuchtigkeit, die bei hohen Temperaturen verdampft oder von Pflanzen abgegeben wird. Bäume, die keine große Höhe erreichen, sind in Gebieten mit wenig Niederschlag und verfügbare Feuchtigkeit verbreitet. Sie fehlen aber in Gebieten mit viel Niederschlag, da sie dort wahrscheinlich gegen den hohen Konkurrenzdruck hochwachsender Bäume nicht bestehen können. Diese wachsen nämlich nur in feuchten Regionen mit viel Niederschlag, und es kann ihnen auch kaum zu nass sein.
„Die Beziehungen zwischen Pflanzeneigenschaften und Klimafaktoren, die wir gefunden haben, helfen uns, die vorhandenen globalen Vegetationsmodelle zu verbessern und neue zu entwickeln“, sagt Christian Wirth, und sein Kollege Björn Reu ergänzt: „Die Vegetationsmodelle der nächsten Generation werden höchstwahrscheinlich nicht mehr auf funktionellen Pflanzentypen basieren wie die heutigen, sondern nur noch mit konkreten Merkmalen von Pflanzen arbeiten.“ Vegetationsmodelle repräsentieren die Biogeosphäre auch in Erdsystemmodellen. Erfassen sie den Einfluss des Klimas auf die Vegetation realistischer, können Erdsystemmodelle zuverlässiger vorhersagen, welche Spuren der Klimawandel in der Vegetation und den Landökosystemen hinterlassen wird.
„Die funktionelle Biogeografie sollte uns also letztlich zu einem besseren Verständnis verhelfen, wie sich der globale Wandel auf die Funktionen von Ökosystemen und ihre Dienstleistungen für den Menschen auswirken wird“, sagt Jens Kattge. Geoforscher können uns dann künftig vielleicht klar vor Augen führen, welche Konsequenzen die Erderwärmung für den globalen Wasserhaushalt sowie die Land- und Forstwirtschaft haben wird. Vielleicht erkennen wir dann doch noch die Notwendigkeit, dem Klimawandel beherzt zu begegnen. (PH)

Originalpublikationen:

Linking plant and ecosystem functional biogeography
Markus Reichstein, Michael Bahn, Miguel D. Mahecha, Jens Kattge und Dennis D. Baldocchi
Proccedings of the National Academy of Sciences (PNAS) special feature, online veröffentlicht, 15. September 2014; doi: 10.1073/pnas.1216065111

Predicting species’ range limits from functional traits for the tree flora of North America
Ulrike Stahl, Björn Reu und Christian Wirth
Proccedings of the National Academy of Sciences (PNAS) special feature, online veröffentlicht, 15. September 2014; doi: 10.1073/pnas.1300673111

The emergence and promise of functional biogeography
Cyrille Viollea, Peter B. Reich, Stephen W. Pacalad, Brian J. Enquiste und Jens Kattge
Proccedings of the National Academy of Sciences (PNAS) special feature, online veröffentlicht, 15. September 2014; doi: 10.1073/pnas.1415442111

Kontakte:

Prof. Dr. Markus Reichstein
Max-Planck-Institut für Biogeochemie, Jena
markus.reichstein@bgc-jena.mpg.de
Tel.: +49 (0)3641 57-6273

Prof. Dr. Christian Wirth
Universität Leipzig
Deutsches Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
cwirth@uni-leipzig.de
Tel.: +49 341 97-38 591

Dr. Jens Kattge
Max-Planck-Institut für Biogeochemie, Jena
jkattge@bgc-jena.mpg.de
Tel.: +49 3641 57-6226

Ulrike Stahl
Max-Planck-Institut für Biogeochemie, Jena
ustahl@bgc-jena.mpg.de
Tel.: +49 3641 57-6215
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