„Als Wissenschaftlerin bin ich optimistisch“

Ein Interview mit Susan Trumbore über die Kipppunkte des fragilen Amazonas Ökosystems und warum es hilft, weniger Fleisch zu essen

Susan Trumbore, Direktorin am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena,  erforscht die Ökosysteme der Erde. Ihr Forschungschwerpunkt liegt dabei auf der Rolle von Böden und der Vegetation im Kohlenstoffkreislauf. Sie will verstehen, wie sich Landnutzung und Klima gegenseitig beeinflussen und - auf Basis dieser Erkenntnisse - nachhaltige Strategien in der Landwirtschaft entwickeln.

Frau Trumbore, in der Diskussion um die Klimakrise ist viel von Kipppunkten die Rede. Auch aktivistische Gruppen weisen fast täglich auf die Gefahr solcher Kipppunkte hin. Ein Beispiel ist der Amazonas. Anfang August trafen sich acht Länder des Amazonasgebiets zu einem Gipfel über die Zukunft des Regenwaldes. Was ist eigentlich ein Kipppunkt, insbesondere im Fall des Amazonas-Regenwaldes?

Susan Trumbore: Ein Kipppunkt ist eine kritische Schwelle im Erdsystem. Überschreitet man sie, wechselt man von einem System zum anderen. Es gibt kein Zurück. Normalerweise tritt an dieser kritischen Schwelle eine Art positiver Rückkopplung auf, die den Übergang beschleunigt. Dies bedeutet jedoch keine sofortige Veränderung, und wie lange es dauert, hängt von der Art des Kipppunkts ab.

In der Ökologie des Amazonasgebietes geht der Regenwald im Extremfall in eine Savanne über, wahrscheinlich eher in einen degradierten Sekundärwald oder einen neuartigen Wald, der nicht die gleichen Funktionen wie der ursprüngliche Wald erfüllt. Der Regenwald ist immergrün, hat viel mehr Biomasse und kann auch mehr CO2 speichern. Selbst in der Trockenzeit kann er Wasser aus tieferen Bodenschichten ziehen. Indem er Wasser verdunstet, hält der Wald die Gegend kühl und schützt die Vegetation vor dem Austrocknen.

Wie trägt die Abholzung zu einer möglichen Veränderung des gesamten Ökosystems des Amazonas bei?

Wird Regenwald in Ackerland umgewandelt, verdunstet weniger Wasser und das Gebiet heizt sich auf. Brände breiten sich leichter aus. Weil auch weniger Wasser verdunstet, regnet es irgendwann nicht mehr genug, um die Wälder zu versorgen und zu erhalten.

Wie sicher sind Sie sich in Bezug auf den Amazonas?

Wir wissen schlicht zu wenig, um einen konkreten Kipppunkt für eine so große und diverse Fläche wie den Amazonas zu bestimmen. Vielleicht werden wir erst in einem Jahrhundert wissen, ob wir einen Punkt überschritten haben. Wir können auch nicht sicher sein, welche Funktionen – wie die Biodiversität – für immer verloren gehen und welche – wie die Verdunstung – sich mit der Zeit erholen könnten. Theoretische Modelle sagen einen Kipppunkt bei etwa 20 bis 25 Prozent Entwaldung voraus. Heute liegen wir im Durchschnitt bei etwa 15 Prozent, lokal bei über 20 Prozent. Da diese Modelle aber bei weitem nicht alle Prozesse berücksichtigen, die hier am Werk sind, und wie sie interagieren, sind die Vorhersagen unsicher.

Führen Sie deshalb Experimente im Amazonasgebiet durch?

Ja, wir arbeiten in Mato Grosso, einer der am stärksten entwaldeten Gebiete im Amazonas. Hier sind schon um die 23 Prozent verloren gegangen und hier sind wir auch am nächsten an einem Kipppunkt. Es ist, als würde man durch Kansas fahren: ein Flickenteppich aus Restwäldern zwischen Sojafeldern.

Hier messen wir den Kohlenstoff- und Wasseraustausch, um zu verstehen, wie die Wälder und das lokale Klima auf Trockenheit und Abholzung reagieren. Wir haben herausgefunden, dass das viel heißere Ackerland noch bis zu einem gewissen Grad von der kühlenden Wirkung eines intakten Waldes in der Nähe profitiert. Wenn wir aber weiter Wälder abholzen und lokale Hitzeinseln schaffen, könnte ein Kipppunkt für die Landwirtschaft überschritten werden, an dem die Ernteerträge zurückgehen.

Die verbleibenden Waldflächen degradieren vor allem in den Randbereichen, zumal sie dort auch anfälliger für Brände sind. Wir wissen nicht, ob sich diese fragmentierten Wälder in den nächsten Jahrzehnten oder Jahrhunderten selbst erhalten oder ob ihre Funktion kippen wird. Wenn, dann wären die Biomasse und Biodiversität des ursprünglichen Waldes verloren. Wir arbeiten hier, weil es wahrscheinlich die Region ist, die kurz davor steht einen Kipppunkt zu überschreiten.

Wie gelingt es Ihnen einerseits über die Dringlichkeit des Handelns und andererseits über Unsicherheiten zu sprechen?

Das ist schwierig. All die Jahre haben wir über den Klimawandel geredet, und niemand hat sich darum gekümmert, bis es die Menschen persönlich betroffen hat. Ich habe das Gefühl, dass es egal ist, was wir sagen, es sei denn, wir zeichnen das Bild einer Katastrophe. Und selbst dann hat meines Erachtens niemand zugehört, bis die Katastrophe eingetreten ist. Es sollte uns eine Lehre sein, dass in den 1990er Jahren noch die Rechenleistung fehlte, um die Extremwetterereignisse genau vorherzusagen, die heute aber niemanden überraschen.

Nur weil wir nicht genau wissen, wann das Ökosystem kippt, heißt das nicht, dass wir uns keine Sorgen machen oder weiter abholzen sollten. Der Mensch greift in sehr kurzen Zeiträumen ein. Aber die Vegetation reagiert viel langsamer auf Veränderungen. Für mich ist das größte Problem, dass Biodiversität und Biomasse bereits unwiederbringlich verloren gehen. Auch Arten, die noch gar nicht klassifiziert sind. Wir müssen die ursprünglichen Wälder um jeden Preis schützen, denn wir sind jetzt auf sie angewiesen, und es kann Hunderte oder Tausende von Jahren dauern, bis das, was verloren gegangen ist, wieder nachgewachsen ist.

Die Entwaldung bedroht die Sozioökonomie in Brasilien, ein Land, das von der Wasserkraft abhängig ist. Wenn sich Niederschlagsmuster verändern, betrifft das auch, wie viel Wasser die Flüsse abführen.

Genau, ja. Wenn durch die Entwaldung weniger Wasser verdunstet, trägt dieses Wasser umso mehr zu Überschwämmungen bei.

Wie schätzen Sie die Auswirkungen des Amazonas-Gipfels auf die Zukunft des Regenwaldes ein?

Lula war bereits von 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens. In der Zeit wurden große Teile des Regenwaldes unter Schutz gestellt, die Entwaldung ging zurück, während der Sojaanbau zunahm. Indem man bereits entwaldetes Land intensivierte, kurbelte man die Wirtschaft an, ohne dass zusätzlich abgeholzt werden musste.

Die Abholzung in Brasilien selbst regelt der „Forest Code“ von 1965. Unter Bolsonaro wurde dieses Gesetz jedoch nicht strikt umgesetzt. Seit Lula 2023 wieder Präsident wurde, ist die Entwaldung wieder zurückgegangen. Ob die Intensivierung des Landes sich wieder auszahlt, hängt stark davon ab, was die Agrarprodukte auf dem Markt bringen. Das ist sehr komplex. Die Vereinbarung des Gipfels ermutigt die Länder, bestehendes Recht durchzusetzen und sendet das Signal, dass einzelne Länder die sozioökonomischen Herausforderungen nicht alleine bewältigen müssen.

Was besagt der „Forest Code“?

Wer Privatland besitzt, darf nur 20 Prozent davon abholzen und nutzen. Offizielle Besitzurkunden gibt es nur für 10 Prozent des Landes, weit mehr wurde illegal angeeignet. Dieses angeeignete Land trägt mit 30 Prozent zur gesamten Entwaldung bei. Dank Lula stehen heute große Teile des Landes unter Schutz.

Was ist mit der illegalen Entwaldung, die zum Beispiel mit der Holzmafia, dem Drogenhandel oder dem illegalen Bergbau zusammenhängt?

Viel hängt von der Regierung und ihrem Willen ab, die bestehenden Gesetze durchzusetzen. In der Landwirtschaft wollen eigentlich alle, dass illegale Entwaldung gestoppt wird. Sie legen Wert auf intakten Regenwald und dürfen laut Forest Act ja nach wie vor Land erwerben und 20 Prozent davon umnutzen. Doch wer das tut und damit nicht einmal gegen das Gesetz verstößt, bekommt international heftigen Gegenwind. Das hat Beschäftigte in der Landwirtschaft desillusioniert und vielleicht Bolsonaro zum Wahlsieg verholfen.

Laut Bolsonaro solle Brasilien das gleiche Recht auf Abholzung und Wirtschaftswachstum haben wie andere Länder. Wir dürfen in der Diskussion die vielen Interessengruppen nicht vergessen und sollten bereit sein, mit zusätzlichen Mitteln Ausgleich zu schaffen, also die Abholzung immer unattraktiver zu machen und dem Wald einen ähnlichen Wert zu geben wie dem Land, das ihn sonst ersetzen würde.

Lula scheint ein ganzheitlicheres Verständnis von nachhaltigem Wachstum zu haben und berücksichtigt neben der wirtschaftlichen auch die soziale und ökologische Dimension.

Nachhaltigkeit bedeutet nicht nur bestehende Wälder zu schützen, sondern auch bereits abgeholzte Flächen besser zu nutzen. Die Mega-Landwirtschaft in Brasilien funktioniert nur durch den ständigen Einsatz von Düngemitteln und ist anfällig für Preise auf dem Weltmarkt. Deshalb ist es wichtig zu erforschen, wie etwa Nährstoffe besser in den Böden des Amazonasgebiets gehalten werden können. Nur so kann das Land widerstandsfähig bleiben.

Neben indigenen Gruppen waren auch Deutschland, Norwegen und Frankreich auf dem Gipfel vertreten. Warum war das so?

Norwegen und Deutschland sind die größten Geldgeber des Amazonas-Fonds. Frankreich und Spanien erwägen den Beitritt. Der Amazonas-Fonds ist ein Mechanismus, um Geld von Ländern mit hohem Einkommen zu nehmen, um den Wald zu erhalten und die Abholzung zu verhindern. Abgeholztes Land, das für den Sojaanbau genutzt wird, ist mehr wert als intakter Wald. Ohne diese Gelder gäbe es kaum einen Anreiz, den Wald zu erhalten, außer dass es illegal ist, ihn abzuholzen.

Es geht um eine globale Verantwortung. Sind diese wenigen Länder die einzigen Akteure?

Nein, nach der UN-Klimakonferenz COP26 investieren zum Beispiel auch private Unternehmen. Vor allem solche, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt klimaneutral werden wollen.

Eine andere Art der Investitionen sind Kompensationsprogramme, die darauf abzielen, unseren CO2-Fußabdruck durch das Pflanzen neuer Bäume zu verringern.

Ein großer Baum speichert viel CO2 und es würde Jahrhunderte dauern, einen solchen Baum zu ersetzen. Es wäre also sinnvoller, die ursprünglichen Regenwälder mit ihrer enormen Biomasse zu erhalten, als neue Bäume zu pflanzen. Aber wenn man den Wald erhalten will, muss man aber auch zahlen, was er wert ist. Kompensationsprogramme bieten, soweit ich weiß, etwa 10 US-Dollar pro Hektar. Um Abholzung zu verhindern, bräuchte man das Zehnfache.

Was können wir als Individuen tun?

Die Abholzung wird vor allem durch die weltweit hohe Nachfrage nach tierischen Produkten vorangetrieben. Der Großteil des in Mato Grosso angebauten Sojas wird in Deutschland an Schweine verfüttert. Weniger Fleisch essen hilft!

Allein in Deutschland werden rund 60 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche für den Anbau von Tierfutter verwendet.

So ist es.

Sind Sie als Wissenschaftlerin optimistisch?

Das bin ich. Die meisten meiner Erfahrungen habe ich während der Präsidentschaft von Lula gemacht, als die Regierung aktiv den Rat der Wissenschaft einholte. Für mich als Amerikanerin ist das sehr erfrischend. Wir Menschen entscheiden, wie der Planet aussieht. Und das Wissen, das wir generieren, kann uns helfen, kluge Entscheidungen zu treffen und aktiv eine lebenswerte Zukunft zu gestalten.

Interview: Tobias Beuchert

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